Randnotizen:

Liebe Leserinnen und Leser,

der Presse vom 14.11.17 war zu entnehmen, dass das Land Niedersachsen mit 800 Millionen Euro mehr Steuereinnahmen rechnet. Im Zuge der Regierungsbildung in Niedersachsen, die inzwischen abgeschlossen ist, darf man gespannt sein, wie mit diesen finanziellen Möglichkeiten die Weichen auch für die Kultuspolitik neu gestellt werden. Ideen sind reichlich vorhanden. Man könnte zum Beispiel versuchen, die Unterrichtsversorgung an niedersächsischen Schulen nicht nur rechnerisch, sondern tatsächlich auf 100 % zu bringen, mehr Lehrer/innenstellen zu schaffen, Arbeitsbedingungen attraktiver zu gestalten, um Interessenten für den Beruf der Lehrerin und des Lehrers bzw. für eine Anstellung in Niedersachsen zu gewinnen. Auch könnte man einen zukunftsweisenden Pensionsfond für alle neu eingestellten Lehrerinnen und Lehrer schaffen, um eine angemessene Absicherung im Alter zu gewährleisten und diese Last nicht den nachfolgenden Generationen aufzubürden.

Der neue Kultusminister ist inzwischen mit den Verbänden in Kontakt getreten, um Begehrlichkeiten und angemessene Forderungen auszuloten und interessanterweise hat er zuerst mit einem Verband Kontakt aufgenommen, der scheinbar bisher vernachlässigt und wenig gehört wurde: Mit den Vertretern der Berufsschullehrer. Er versprach zum einen, dass es auch zukünftig kein Weihnachtsgeld (schade!), wohl aber grundsätzlich mehr Entlastungsstunden für außerunterrichtliche Belastungen geben werde (richtig!). Damit trifft er genau eine der Kernforderungen, die auch der „Sachstandsbericht des Expertengremiums Arbeitszeitanalyse beim Niedersächsischen Kultusministerium zur Neuregelung der Arbeitszeit der Lehrkräfte“ proklamiert. Dieser Bericht, seit Längerem mit Spannung erwartet, liegt seit einigen Tagen beim Kultusministerium vor und kann unter der Seite des Kultusministeriums unter „Aktuelles – Presseinformationen“ eingesehen werden1.

Es lohnt sich.

Zuallererst stellt der Bericht fest, dass die Arbeitszeitstudie der Georg-August-Universität Göttingen vom August 2016 ein valides Instrument ist, die Arbeitszeit von Lehrkräften in Niedersachsen genau zu erfassen. Es wurden ein komplettes pädagogisches Jahr erfasst und die Ergebnisse auf eine Durchschnittswoche und das Vollzeitlehreräquivalent bezogen, wodurch auch Teilzeitlehrkräfte entsprechend gewichtete Berücksichtigung finden können. Der „reine, gehaltene Unterricht umfasst nur 35% der tatsächlichen Arbeit von Lehrkräften“ (s. S. 5 der Studie2), beinahe genauso viel Zeit wenden sie für unterrichtsnahe Lehrarbeit (Korrekturen, Unterrichtsplanung) und dann noch einmal für Tätigkeiten wie Kommunikation, Fahrten, Weiterbildung oder Funktionen auf. Die Göttinger Studie hat die für Beamte vorgeschriebene 40-Stunden-Woche mit den Ferienzeiten verrechnet und rechnerisch eine 46:38-Stunden-Woche (Std:Min) für Lehrerinnen und Lehrer festgestellt. Der tatsächliche Durchschnitts-IST-Wert liegt mit 48:18 Stunden deutlich darüber, wobei vor allem Vollzeitlehrkräfte aufgrund fehlender Erholungszeiten bzw.  entgrenzter Arbeitszeiten im Schulalltag an Belastungsgrenzen stoßen.  Die meisten Lehrkräfte arbeiten auch am Wochenende und in Ferienzeiten, „etwa 17 % überschreiten sogar während der Schulzeit dauerhaft die gesetzliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden pro Woche“ (s. S. 7). Besonders an Gymnasien wird die vorgeschriebene Arbeitszeit wöchentlich mit zusätzlich 3:05 Stunden deutlich überschritten. Bei sechs Wochen Jahresurlaub und 46 Arbeitswochen arbeiten Lehrkräfte also ca. 140 Stunden zu viel im Jahr bzw. unbezahlt! Bei Schulleitern ist diese Zahl sogar doppelt so hoch, auch wenn die hierbei verwendete Stichprobe noch nicht als repräsentativ angesehen werden kann.  

Als Folge dieser Belastungen konstatiert die Studie, dass viele Pädagoginnen und Pädagogen ihre Unterrichtsverpflichtungen reduzierten, wobei dies das eigentliche Problem nicht löse. Denn auch Teilzeitlehrkräfte überschreiten, umgerechnet auf das Konstrukt Vollzeitäquivalent, das Arbeitssoll erheblich.

Die aus diesen Erkenntnissen resultierenden Empfehlungen des Expertengremiums sind eindeutig, nachvollziehbar und direkt umsetzbar. Es empfiehlt vor allem, „dass die notwendigen politischen Entscheidungen schulformspezifisch sein sollten.“ (s. S. 16). So soll zum einen die Unterrichtsverpflichtung an Gymnasien gesenkt werden und diese sollen in die Lage versetzt werden, auf unterschiedliche individuelle Anforderungen und Belastungen reagieren zu können. Dies kann sich z.B. auf deutlich überdurchschnittliche Kursgrößen oder sehr hohen Korrekturaufwand beziehen, dazu benötige die Schule ein entsprechendes Kontingent an Anrechnungsstunden. Dieses wird von den Experten als kurzfristige Maßnahme empfohlen, bevor eine Änderung der Arbeitszeitverordnung für Lehrerinnen und Lehrer Grundsätzliches festschreibt.

Soweit ein kurzer Einblick  in den Sachstandsbericht des Expertengremiums.

Grundsätzlich müssen wir für unsere Schule, das Gymnasium Alfeld, feststellen, dass viele Kolleginnen und Kollegen, unabhängig von Teilzeit oder Vollzeit, ihre Belastungsgrenze erreichen oder erreicht haben. Die zeitlichen und organisatorischen Beanspruchungen durch Unterrichtsvorbereitung, notwendige Konferenzen  und Korrekturen sind inzwischen so hoch, dass man nur erstaunt sein kann, wie gering der Krankenstand und auch der Unterrichtsausfall sind. Auch wenn Eltern Letzteres durchaus anders empfinden, gelingt es uns in weiten Teilen, Unterrichtsausfälle adäquat zu kompensieren, wenn auch nicht zu vermeiden.

Und trotz dieser Belastungen nehmen Kolleginnen und Kollegen weiterhin – (wie lange noch?) – zusätzliche Arbeit auf sich. Sie organisieren und betreuen das Management-Information-Game, den Vorlesewettbewerb, Handballturniere, die Weihnachtsmusik, den Verkauf aus dem Eine-Welt-Laden oder leiten, neben anderen schulorganisatorischen Aufgaben, eine Fachgruppe. Sie organisieren Austausche, den Lehrerstammtisch, den Vorlesewettbewerb oder Ski- und Wassersportwochen. Sie gehen mit Lerngruppen auf Exkursion oder unterstützen den Fachunterricht anderer Kolleginnen und Kollegen, indem sie die Arbeit eines Suchhundes vorführen oder bilden Referendare aus. Sie bilden sich selbst fort und weiter, erweitern ihre Qualifikation und Profession. Sie treffen sich mit anderen Schulen und Schulformen zum Austausch, organisieren Informationsveranstaltungen, arbeiten zusätzlich in schulnahen örtlichen oder überregionalen Gremien.

Da mag man sich fragen, warum man dies auch noch auf sich nimmt. Der oben zitierte Bericht merkt an einer Stelle an, dass sich die Pädagoginnen und Pädagogen mit der Belastung arrangiert hätten. Das kann man als sachliche Feststellung oder auch als zynischen Kommentar verstehen – es geht doch, hört auf zu jammern! Wieso bürdet man sich in dieser Situation also noch mehr Arbeit auf?

Ein wesentlicher Grund scheint zu sein, dass den Kolleginnen und Kollegen neben all der Arbeit vor allem die Schülerinnen und Schüler wichtig sind, Ihre Kinder, die sie nicht nur mit Fachwissen und Methoden auf Abschlüsse und den späteren Berufsweg vorbereiten, sondern mit denen sie auch erzieherisch tätig werden, nützliche Dinge neben dem Lehrplan unternehmen, als Ansprechpartner für Fragen, Probleme oder Nöte zur Verfügung stehen. Und es scheint auch so zu sein, dass dieses Engagement zurückgespiegelt wird und in kleinen Augenblicken als Zufriedenheit, Freude oder Anerkennung aufblitzt. 

Engagement zeigt sich in vielen Facetten und wirkt direkt auf Unterricht und damit den Lernerfolg zurück. Auch die niedersächsische Koalitionsvereinbarung weiß dieses und stellt fest: „Guter Unterricht gelingt nur mit engagierten und motivierten Lehrkräften“. So ist es.

Es gibt also Hoffnung, dass die Politik ein Einsehen hat und geeignete Maßnahmen zur Entlastung finden und umsetzen wird, damit unsere Kolleginnen und Kollegen ihren Beruf nicht nur weiter mit Engagement ausüben, sondern dies auch langfristig und mit entsprechender Gesundheit tun können. Dass man sich mit der Belastung arrangiert hat, ist schlimm genug, aber auf Dauer nicht zumutbar.

Wenn wir also nach vorne schauen, wollen wir der Landesregierung und dem neuen Kultusminister erst einmal viel Gutes und Sinnvolles zutrauen und hoffen, weiterhin Gehör zu finden. Wir haben auch unseren Teil zur Verbesserung der Situation beigetragen: Zum Halbjahreswechsel stellen wir vier weitere Kolleginnen und Kollegen ein, die direkt zu einer Entspannung der Unterrichtsversorgung führen werden. Darauf freuen wir uns.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine schöne Weihnachtszeit, weiterhin Optimismus und einen engagierten Start im neuen Jahr 2018.

Ihr Michael Strohmeyer 

 

1/2 https://www.mk.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/expertengremium-arbeitszeitanalyse-zur-neuregelung-der-arbeitszeit-der-lehrkraefte-kultusministerin-heiligenstadt-nimmt-sachstandbericht-entgegen-159569.html